Wieso Ausgangsbeschränkungen aller Kritik erhaben sind

Der kollektive Hausarrest ist Symptom einer Politik, die sich lieber in Autorität statt Solidarität übt.

Als empathischer Mensch habe ich meine physischen Kontakte während der Pandemie auf ein Minimum reduziert; Ich halte mich weitgehend an die staatlichen Ausgangsbeschränkungen. Doch nicht alle unserer Verbote haben wissenschaftliche Grundlage. Ein bemerkenswertes Beispiel ist, dass eine Einzelperson sich nun nicht im öffentlichen Raum entspannen darf, indem sie etwa ein Buch auf einer Parkbank liest. Ebenso schreitet die bayerische Polizei nun ein, wenn sie ein zusammenlebendes Paar beim Picknick erwischt. Es gibt keinen Grund zur Annahme, dass diese Situationen ein Infektionsrisiko darstellen – bis zum Zeitpunkt wenn die Polizist*in sich nähert um Anzeige zu erstatten.

Eine evidenzbasierte Politik müsste statt der Empfehlung, »zuhause zu bleiben«, den Menschen möglichst viel Freiraum an der frischen Luft bieten. Studien zeigen nicht nur die Vorteile der Sonne und Frischluft auf unser Immunsystem und unsere psychische Gesundheit; sie legen auch nahe, dass der Aufenthalt im Freien elementar zum Eindämmen von Pandemien ist.¹ Eine evidenzbasierte Politik würde auch erkennen, dass autoritäres Durchsetzen von Kontaktverboten oft Charade ist: Freund*innengruppen, die sich nicht mehr in Parks treffen können, weichen auf Privaträume aus, wo das Infektionsrisiko deutlich höher ist und die Polizei keinen Einblick hat.² Es ist unklar, ab welcher Härte ein Kontaktverbot kontraproduktiv wirkt.

Alternativen wie die Einführung neuer Überwachunsmethoden drohen, nachhaltig unsere Freiheitsrechte abzubauen.

Wir erkennen also, dass unter aktuellen Verhältnissen keine perfekten Maßnahmen möglich sind. Eine Kritik der Politik kennt aber nur eine Vignette möglicher Welten solange sie nicht die Verhältnisse infrage stellt.

Was sind unsere Verhältnisse?

1. Vertrauen in den Staat ist derzeit essenziell. Wahres Vertrauen bekommt aber nur, wer verlässlich nach einem solidarischen und humanistischen Wertesystem handelt; Wer nach der Überzeugung handelt, dass wir unseren moralischen Kreis ausweiten können und sollen. Viele Arbeitslose und prekär Beschäftigte bekommen jetzt schon den Eindruck, dass sie am äußersten Rand des moralischen Kreises der deutschen Regierung entlangkratzen. Nur ein Blick zur europäischen Außengrenze zeigt, welches Los auf die wartet, die nicht in den Kreis aufgenommen werden.

2. Polizeigesetze der letzten Jahre haben die autoritären Absichten deutscher Politiker gezeigt. Diese Politiker könnten heute besser handeln unter dem Vertrauensvorschuss, dass sie ihre Befugnisse nicht ausnutzen. Ein ernsthafter Umgang mit Rechtsextremismus in Staatsorganen könnte dieses Vertrauen aufbauen, nicht aber das Niederknüppeln von Umweltschützer*innen.

3. Die neoliberale Kommodifizierung in allen Lebensbereichen, aber besonders der Pflege. Nur wenn wir jetzt für eine faire Bezahlung und menschliche Arbeitsverhältnisse einstehen kann unser Gesundheitssystem die nächste Katastrophe abfedern.

*geschrieben auf einer Parkbank am 12.04.2020*


¹ Hobday, Cason: The open-air treatment of pandemic influenza. Am J Public Health, 2009.
² Zeynep Tufekci: Keep the Parks Open. The Atlantic, 2020.

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